Wer bin ich? Was bin ich? Wer definiert mich?
Fragen wie diese stellt sich Juliana oft. Jahreszeiten streichen vorbei. Die ersten Frühlingsstrahlen bringen die Fragen mit, der Sommer heizt sie auf, der Herbst lässt sie reifen, der Winter schreit sie in alle Sinne. Da capo. Beim Versuch, eine Antwort zu finden, landet sie doch immer wieder nur bei Krüppel. Es scheint ihr, als sei ihr Name nur ein schlechter Versuch, diese Tatsache zu überblenden. Krüppel. Es waren zunächst nur die anderen, die sie so nannten. Die Mutter sagt, aus Furcht. Juliana denkt, weil sie den Durchblick haben. Manchmal kann Juliana das vergessen. Beim Zeichnen. Darin kann sie für kurze Zeit versinken. Denn eins ist mal klar: Man braucht dazu keine Beine, es sei denn, man hat keine Arme und ist mit dem Mund gänzlich ungeschickt. Gedanken wie diesen erlaubt sie sich manchmal, eine Flucht in den Sarkasmus, die aber nie lange anhält. Juliana hat ein gutes Herz, eine reine Protesthaltung, die man sich nur erlauben kann, denkt sie, wenn man auch so schlecht da steht. Denn eins ist mal klar: Mit einem guten Herz ist man noch mehr Krüppel als ohne Beine, nur als Beispiel. Sie kennt keinen Menschen, dem Körperteile abhanden gekommen sind. Zu gern würde sie einen vollständigen Menschen fragen, worüber er sich definiert. Nur redet niemand mit ihr, dem Krüppel. Aus Furcht, sagt die Mutter. Aus weiser Voraussicht, denkt Juliana und kann sich nicht erklären, was sie damit meint. Es ist nicht so, dass sie nie versucht hätte, Kontakte zu anderen herzustellen. Die wohl beste Chance hatte sie, als sich Jonas, der schönste, stärkste und beliebteste – eine Kausalkette von zwingender Logik, wie Juliana fand – Junge der Klasse bei einem schweren Sturz mit dem Fahrrad beide Beine brach. Endlich war da jemand in der gleichen Situation. Wenn man Gleichheit von der Art des Fortbewegungsmittels abhängig macht. Als Jonas nach seinem Unfall mit dem Rollstuhl in die Schule kam, stellte sich Juliana vor, wie es wäre, wenn sie ihm beibrachte, damit zu fahren. Sie würden Wettrennen fahren, die sie natürlich gewinnen würde, aber vielleicht würde sie auch ihn gewinnen lassen wegen ihres guten Herzens. Aus Furcht, flüsterten die Synapsen. Sie würden viel reden und noch mehr lachen. Der Traum platzte schnell. Bei einem ersten Blick eines Schulkameraden, der Jonas und Juliana verband, schrie Jonas los und drohte mit ihm mit baldiger Prügel, denn nur weil er scheinbar das Schicksal des Krüppels teilte, wollte er nicht mit ihm auf diese – unterste – Stufe gestellt werden. Als Zeichen des Verständnisses spottete der Schulkamerad in den nächsten Wochen noch viel heftiger übeer Juliana. Sie verstand. Sie versteht vieles. Sie weiß durchaus, Gerechtes von Ungerechtem zu unterscheiden. Sie kann vieles differenziert betrachten, oft im heftigsten inneren Dialog mit sich. Dennoch gelingt es ihr nie, sich als etwas anderes als einen Krüppel zu sehen. Wahrscheinlich ist sie zu sensibel und die Schläge der anderen durchbrechen ihre von innen aus Vernunft und Verstand aufgebaute lockere Mauer ohne Probleme. Immer wieder. Jeden Tag aufs Neue. Sind es keine verletzenden Worte, dann ist es Ignoranz und sie kann nicht sagen, was mehr schmerzt. Manchmal fragt sie sich, wie es wohl wäre, wenn sie einem Menschen begegnete, der anders ist. Dem vielleicht auch etwas fehlt. Wie würde sie ihm begegnen? Wäre sie ebenso mit Ekel oder Furcht, wie die Mutter sagte, erfüllt oder wäre es ein ganz anderes Gefühl? Sie kann es sich nicht vorstellen. In der winzigen Stadt gibt es nur sie, den beispielhaften Krüppel.
Sonntag, Januar 28, 2007
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